25. Oktober 2025

Von der Gaslaterne zu ChatGPT – Berufswahl unter dem Einfluss technischer Innovation

Die Studie „This Time It’s Different – Generative Artificial Intelligence and Occupational Choice“ von Goller, Gschwendt & Wolter (2025) beleuchtet, wie die Einführung von ChatGPT Ende November 2022 in der Schweiz das Interesse Jugendlicher an verschiedenen Lehrberufen beeinflusst hat. Die Analyse basiert auf Veränderungen im Suchverhalten auf der nationalen Lehrstellenplattform, wo im Durchschnitt ein Rückgang der Suchanfragen um rund acht Prozent festgestellt wurde. Auffällig ist, dass dieser Rückgang nicht gleichmäßig über alle Berufsgruppen verteilt war. Überdurchschnittlich stark betroffen waren Berufe, die hohe sprachliche, kognitive und wissensbasierte Anforderungen stellen – wie etwa kaufmännische Berufe oder Mediamatikberufe. In handwerklich-technischen Berufen fielen die Rückgänge deutlich geringer aus.

Dieses Muster weicht von bekannten Befunden aus der Automatisierungsforschung ab. In früheren Technologiewellen zeigten sich Rückgänge vor allem bei Berufen mit hohem Anteil wiederholbarer Routinetätigkeiten, wo die Substitutionsgefahr durch Maschinen oder Software unmittelbar erkennbar war. In diesem Fall sind jedoch gerade anspruchsvolle, nicht-routinemäßige Aufgaben stärker betroffen. Die Autoren interpretieren dies als Folge der besonderen Wahrnehmung generativer KI, die im Gegensatz zu früheren Technologien sehr glaubwürdig in einem Bereich auftritt, der bislang als genuin menschlich galt – der Sprachverarbeitung, dem Schreiben und der Analyse komplexer Inhalte.

KI mag erst ganz wenige Berufe substituieren, aber allein die mediale Sichtbarkeit ihrer Fähigkeiten reicht offenbar aus, um junge Menschen in ihrer Berufsorientierung zu beeinflussen. Die Studie deutet darauf hin, dass Berufe, die in der öffentlichen Wahrnehmung in Konkurrenz zu KI stehen, schon vor einer tatsächlichen technologischen Disruption an Attraktivität verlieren können.

An dieser Stelle kann an ein historisches Beispiel aus der Zeit der Elektrifizierung erinnert werden: Im 19. Jahrhundert gingen Laternenanzünder noch Tag für Tag durch die Straßen, um Gaslampen abends manuell zu entzünden und morgens wieder zu löschen. Mit dem Aufkommen der elektrischen Straßenbeleuchtung gegen Ende des Jahrhunderts wurde ihre Arbeit zunehmend überflüssig. Auch Proteste und Demonstrationen gegen die Einführung der elektrischen Lampen konnten diese Entwicklung nicht aufhalten. Zwar konnten die Laternenanzünder noch einige Jahre weiterarbeiten, das Ende des Berufs des Lampenanzünders war aber im Moment des technologischen Durchbruchs bereits besiegelt.

Diese Interpretation ist plausibel, erfordert jedoch eine differenzierte Betrachtung. Der zeitliche Zusammenhang zwischen ChatGPT-Veröffentlichung und Rückgang der Suchanfragen ist zwar vorhanden, doch bleibt offen, ob es sich um eine direkte und bewusste Reaktion handelt oder um einen indirekten Nebeneffekt. Denkbar ist, dass Jugendliche Berufe meiden, die sie durch die mediale Diskussion als gefährdet einschätzen. Ebenso möglich ist jedoch, dass die breite Aufmerksamkeit für ChatGPT schlicht zu einer temporären Ablenkung geführt hat. Da die Daten nur das Suchverhalten abbilden, lässt sich nicht sicher sagen, ob dieser Effekt langfristig anhält oder sich nach einer Phase der Gewöhnung wieder abschwächt.

Neben technologischen Faktoren könnten auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen den beobachteten Effekt verstärkt haben. Imageveränderungen einzelner Berufsfelder oder Fachkräftemangel in bestimmten Branchen könnten ebenso eine Rolle spielen wie die intensive Präsenz des Themas in den Medien und sozialen Netzwerken. Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass ein massiver, kaum aufzuhaltender Wandel auf uns zukommt, der die Arbeitswelt grundlegend verändern wird. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die betroffenen Berufe einfach verschwinden. Wahrscheinlicher ist, dass viele von ihnen sich sehr rasch anpassen, neue Aufgabenprofile entwickeln und in veränderter Form weiterbestehen. Für Jugendliche, die vor einer Berufswahl stehen, kann allerdings auch allein die Aussicht auf tiefgreifende Transformation ausreichen, um ihre Entscheidung zu beeinflussen.

Im größeren Kontext ist die Untersuchung ein frühes Signal dafür, dass generative KI nicht nur Arbeitsprozesse verändert, sondern schon im Vorfeld die Erwartungen künftiger Arbeitskräfte prägt – ähnlich wie die Elektrifizierung einst die Berufspläne der Laternenanzünder überschattete -, lange noch bevor die letzte Gaslaterne erlosch.

Quelle:

Goller D., Gschwendt, Ch. und Wolter, S.C. (2023; online veröffentlicht 2025). This Time It’s Different – Generative Artificial Intelligence and Occupational Choice. Institute of Labor Economics (IZA).

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